top of page

Von der Bank

in den Fetischclub

Anne-Kathrin Oelmann verdient als Investmentbankerin 100’000 Euro im Jahr. Dann warf sie hin. Heute ist sie DJane, kommt mit 3000 Euro im Monat aus – und ist glücklich. 

 

Neben der Tanzfläche haben gerade drei Pärchen Sex. Die Menschen um sie herum tragen hautenge Lackanzüge oder schmücken sich mit Federn und Glitzer, manche sind komplett nackt, andere lassen sich an Leinen durch den Club führen. Besucher des Berliner Fetischclubs Kitkat müssen neben Telefonen auch Vorurteile und Schamgefühl an der Garderobe abgeben. 

 

Es ist vier Uhr morgens, Annie O. steht hinter dem DJ-Pult des Clubs. Um ihren Oberkörper schmiegt sich ein Korsett aus drei schmalen Riemen, Pasties kleben auf ihren Brustwarzen, die schwarze Hose verdeckt das Nötigste. Sie schaut in die Menge und drückt den Knopf, der den Bass einsetzen lässt, die Menge wirft die Arme in die Luft und fängt an zu tanzen. Annie O. liebt diese Momente. Für sie hat sie ihr Leben als Investmentbänkerin in London eingetauscht, in dem sie Bluse und Blazer trug, mit Anleihen und Unternehmenskrediten handelte und 100’000 Euro im Jahr verdiente. 

 

Annie O. heisst im richtigen Leben Anne-Kathrin Oelmann und ist 34 Jahre alt. Sie wuchs in Dortmund auf, in einem Maisonette-Haus aus roten Backsteinen, mit hohen Fenstern und einem grossen Garten. Ihr Vater war Arzt, die Mutter Lehrerin. Ihnen war wichtig, dass ihre Kinder einen guten EIndruck machen. Mit fünf Jahren bekam Oelmann ihre ersten Klavierstunden, beherrschte Mozart, Bach, Beethoven. Sie ging in eine kirchliche Jugendgruppe, in den Turn- und Schwimmverein und spielte im Tennisclub, in dem ihre Eltern sich kennengelernt hatten. Nie vergaß sie ihre Hausaufgaben, die Schule fiel ihr leicht. 

 

Oelmanns Vater arbeitete die meiste Zeit in der Klinik, die am Ende der Strasse lag. Ihr Bruder war schon einige Jahre zuvor ausgezogen, als ihre Mutter ein Burn-Out erlitt. Die Tochter begann, für sich selbst zu sorgen, ihre Bedürfnisse hintenanzustellen, um ihre Mutter nicht zu überfordern. “Ich war wie unsichtbar”, sagt sie. Ihr Abitur schloss sie trotzdem als Zweitbeste der Schule ab. 

 

Die einzige Frau unter 15 Männern 

 

Freitagabend, ein Uhr nachts, drei Stunden bis zu Annie O.s Auftritt. In einem pompösen Pelzmantel mit Leopardenmuster läuft Annie O. an der Schlange des Clubs vorbei, die Besitzerin öffnet ihr wortlos die Tür. An der Garderobe, an der neben Jacken auch Hose, Oberteile und Unterwäsche abgegeben werden, zieht auch Annie sich aus. 

 

Mit 18 begann Anne-Kathrin Oelmann an der Koblenzer Privatuniversität WHU Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Die Studiengebühren von 7000 Euro pro Jahr übernahmen die Eltern. Für den Tag der offenen Tür hatte sie sich extra den silbernen Audi ihrer Mutter ausgeliehen, obwohl sie selbst schon ein Auto besass: “Mit meinem roten Golf 3 hätte ich mich dort nicht hingetraut”, sagt sie. Unter ihr Foto im Jahrbuch schrieb Oelmann ein Zitat des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki: “Geld allein macht nicht glücklich, aber es ist besser, in einem Taxi zu weinen als in der Strassenbahn.”

 

Mit 21 machte sie ein Praktikum bei der Investmentbank Merrill Lynch in London. Sie arbeitete mindestens zwölf Stunden am Tag, verliess morgens  vor ihren Mitbewohnern das Haus und kam nach ihnen zurück, setzte sich unter Druck, alle Erwartungen zu übertreffen. Direkt nach dem Praktikum bekam sie eine Festanstellung bei der Bank, Einstiegsgehalt: 100’000 Euro im Jahr. Sie war die Jüngste im Team und die einzige Frau unter 15 Männern. Endlich hatte sie es geschafft. Sie war an der Spitze angekommen. 

 

Doch Oelmann hatte bereits begonnen, sich zu verändern. Im Studium war sie nur schwer hinterhergekommen, war zum ersten Mal in ihrem Leben nur Durchschnitt gewesen. In ihren Auslandssemestern in Dublin und Brüssel und auf ihrer zweimonatigen Rucksackreise durch Neuseeland interessierte es niemanden, wo sie studiert hatte, wie viel sie verdiente oder welches Auto sie fuhr, erstmals hatte sie nicht das Gefühl, sich beweisen zu müssen. Immer unwichtiger wurden ihr Geld, Ansehen und Status, immer weniger wollte sie ihren Selbstwert davon abhängig machen, wie sie auf andere wirkte, erzählt sie. 

 

So zog Oelmann donnerstags mit ihren Arbeitskollegen durch schicke Bars - während sie sich freitags und samstags die Nächte in versifften Underground-Clubs um die Ohren schlug. Bei der Arbeit fühle sie sich antriebslos und unaufmerksam, sie schlief nicht mehr gut. Sie begann, gegen den Dresscode der Investmentbank zu verstossen, trug an ihrem Geburtstag statt der gewohnten schwarz-grauen Kostüme ein rotes Kleid mit weissen Punkten. In ihren Pausen rauchte sie Selbstgedrehte. Nach zwei Monaten beschloss sie: “Ich muss hier raus”. 

 

Für das, was sie in ihrer alten Welt erlebt hat, wählt sie eine Metapher aus der neuen: “Wenn man nicht ins Berghain kommt, dann will man automatisch erst recht dazugehören”, sagt sie. Doch je länger sie im Berghain der Erfolgreichen mittanzte, desto mehr verlor diese Welt ihren Glanz. 

 

Kurz nach zwei Uhr morgens. In einem Nebenraum des Kitkat-Clubs kippen Annie O. und ihre Freunde eine Runde Berliner Luft, einen glitzernden Pfefferminzlikör. Die Frau hinter der Bar ist untenrum nackt, eine Anweisung der Besitzerin, erklärt Annie. Die Wände des Raumes sind mit bunten Penissen, Gruppensex- und Blowjob Szenen bemalt, an einer hängt ein metallener Drachenkopf, der ab und an Feuer speit. Das Feuer könne man mit einem Knopf hinter dem DJ-Pult steuern, sagt Annie, sie drücke ihn meistens, sobald die Musik falle und der Bass einsetze: “Das ist wie ein Orgamus”. 

 

Locken statt glatter Haare, Schlagzeug statt Klavier

 

An Weihnachten 2016 erzählte Oelmann ihren Eltern, dass sie kündigen wolle. Kurze Zeit später bewarb sie sich erfolglos als Sekretärin, bekam dann ein unbezahltes Praktikum bei einer PR-Agentur für Kunst und Kultur in London. Mit der Kündigung bei der Bank liess sie die alte Anne-Kathrin zurück. Ihre langen, glatten Haare schnitt sie ab. Annie trug die Haare ab jetzt so wild und lockig, wie sie von Natur aus sind. Statt weiter auf Klavieren herumzuklimpern, begann Annie Schlagzeug zu spielen, wild und laut zu sein. Zusammen mit ihrem damaligen Freund gründete sie die Band “Rotkäppchen”. Die beiden machten elektronische Tanzmusik, spielten in Club und BArs des hippen East London. Endlich fühlte Annie sich frei. Für einen kurzen Moment. 

 

Es ist stickig und eng in der Toilette des Kitkat. Zu sechst haben sich Annie und ihre Freunde hineingequetscht, einer zieht kleine Plastikbehälter mit Koks und MDM aus einem Stoffbeutel. Eine Zeit lang habe sie sich durch die Drogen mehr wie sie selbst gefühlt, von allen Hemmungen befreit, erzählt Annie, als sie die Toilette wieder verlässt. Inzwischen aber fühle sie sich am nächsten Morgen leer. “Ich sehne mich danach, mich so zu fühlen wie ich nach aussen wirke”, sagt sie. Selbstbewusst und stark. 

 

In der Londoner Kunstagentur erhielt Oelmann nach ihrem Praktikum eine Festanstellung. Sie verdiente 14’000 Euro pro Jahr, ein Zehntel ihres Gehalts in der Bank, dafür konnte sie sie selbst sein, durfte anziehen, was sie wollte. Doch noch immer arbeitete sie zwölf Stunden am Tag, noch immer stellte sie höchste Erwartungen an sich: “Ich war mein eigener Sklaventreiber”, sagt sie. Die Unzufriedenheit, die sie aus der Bank kannte, machte sich wieder breit. Nach sieben Monaten kündigte sie. Sie hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, versuchte sich nach der Auflösung von “Rotkäppchen” nebenbei als DJane. 

 

Kellnern in einem Café: 6 Pfund pro Stunde

Hosen falten im Topshop am Oxford Circus: 6 Pfund pro Stunde

Verwaltung in einer Immobilienfirma: 15 Pfund pro Stunde 

 

Das Jobangebot eines Berliner Start-ups kam gerade, als Annies Erspartes sich dem Ende zuneigte. Leitende Position, doppelt so viel Gehalt wie in der Kunstagentur, Annie packte ihre Koffer und gab der Businesswelt eine letzte Chance. Doch auch von der Arbeit in Berlin war sie schnell frustriert, das Arbeitsklima und der Umgang des Gründers mit den Mitarbeitenden rieben sie auf. Wieder räumte sie nach sieben Monaten ihren Schreibtisch. 

 

Es ist kurz nach drei Uhr morgens. An der Bar des Kitkat-Clubs spricht Annie mit einem Mann, der sie schon längere Zeit angesehen hatte. Mitten im Gespräch unterbricht sie ihn: “Tut mir Leid, einer meiner Lover ist hier, ich muss den begrüssen” - sie läuft zu einem anderen hin und küsst ihn innig. Als sie zur Bar zurückkommt, ist der Mann, mit dem sie geflirtet ha, weg. “Manchmal fühle ich mich schon ein wenig einsam”, sagt sie und setzt sich auf einen Hocker. Sie sei unabhängig, habe keine Verpflichtungen gegenüber ihrer Familie, einem Partner oder im Beruf. Aber sie sagt: “Ich will keine Erwartungen enttäuschen, deswegen gehe ich gar keine Bindungen ein”. Die Einsamkeit sei der Preis dafür. 

 

Ohne Festanstellung hangelte sie sich erneut von Nebenjob zu Nebenjob. 

 

Übersetzungen: 45 Euro 

Eine Website für BDSM-Workshops verwalten: 165 Euro 

Newsletter schreiben für einen “Authentic Sexuality Workshop”: 30 Euro 

Eine Website für eine Domina in Berlin betreuen: 180 Euro 

 

Gleichzeitig ging sie feiern – ”Kontakt knüpfen”, wie sie sagt, um wieder als DJane arbeiten zu können wie in England. Anfangs zog sie alleine durch die Clubs, bald freundete sie sich mit Männern aus der Schwulenszene an, lernte Veranstalter kennen, legte bald auf Schwulenpartys in Berlin auf. Ein Auftrag während des Champions-League Finales vor dem Berliner Olympiastadion zu spielen, gab ihrer DJ-Karriere den letzten nötigen Antrieb. Es folgten Aufträge von Google, Amazon, der Deutschen Bahn und McKinsey. “Ohne diese Corporate-Gigs könnte ich nciht vom Auflegen leben”, sagt Annie O. Mit ihnen verdient sie heute monatlich etwa 3000 Euro als DJ. 

 

Besucher verlassen die Tanzfläche, was mache ich falsch? 

 

Zehn Minuten vor ihrem Auftritt im Kitkat-Club wirkt Annie nervös, sie richtet die Riemen ihres Outfits unterhalb ihrer Brüste und erzählt: “Ich muss die Leute auf der Tanzfläche dazu bringen, sich gehen zu lassen. Nur dann kann ich selbst meine Hemmungen für einen Moment loslassen.” Nur in diesen Augenblicken seien ihre Ängste beruhigt, die Zweifel ausgeschaltet. Dann wollte sie gar nicht auf die Uhr schauen, nicht wissen, dass es bald wieder vorbei ist. 

 

Darüber spricht sie auch mit der Therapeutin, die sie seit eineinhalb Jahren dreimal in der Woche besucht. Sie will herausfinden, woher die Mauer kommt, die sie zwischen sich und alle anderen - sogar zwischen sich selbst stellt. Wieso sie sich nur wohl fühlt, wenn sich andere gehen lassen können, sie niemanden an sich  ranlässt und Angst davor hat, Erwartungen nicht erfüllen zu können. “Annie! Du bist gleich dran”, ruft einer ihrer Freunde. 

 

Es ist vier Uhr morgens, Annie O. steht hinter dem DJ-Pult des Clubs. Sie schaut in die Menge und drückt den Knopf, der den Bass einsetzen lässt, die Menge wirft die Arme in die Luft und fängt an zu tanzen.

bottom of page